Erste Klasse. „Emma ist eine aufgeweckte Schülerin. Der Start in das Schulleben fiel ihr nicht ganz leicht. Das Stillsitzen und konzentrierte Arbeiten fällt ihr noch schwer.“ Zweite Klasse. „Durch mehr Konzentration könnte sie ihre Aufträge zügiger erfüllen.“ Fünfte Klasse. „Emma lässt sich leicht ablenken und lenkt andere ab.“
Als ich meinem Psychiater meine Zeugnisse und die ausgefüllten Fragebögen übergebe, ist eigentlich schon alles geklärt. Die Diagnose: ADS, und das im Alter von 21 Jahren. Damit bin ich eine von vielen jungen Frauen, die erst im Erwachsenenleben eine Erklärung für ihr Verhalten bekommen. ADHS, das ist die Krankheit, bei der die Jungs nicht still auf ihrem Stuhl sitzen können, dachte ich lange und bin mit diesen Vorurteilen nicht allein. Das Krankheitsbild galt lange Zeit als etwas, was nur bei männlichen Personen auftritt. Betroffene Frauen dagegen wurden in ihrer Kindheit oft als unaufmerksam, geschwätzig oder tagträumerisch abgestempelt. Daraus folgt eine komplette Generation an weiblichen Personen, die ihre Probleme nicht erklären können oder schlichtweg ignorieren. Aggressionsprobleme, Teenage-Schwangerschaften, Depression – unbehandeltes ADHS kann für alle Geschlechter verheerende Folgen haben. Aber warum wird das Krankheitsbild gerade bei jungen Frauen erst so spät diagnostiziert?
Foto Alice Plati / TINCON 2018
Während aufgeweckte, kleine Jungs quasi in Sekundenschnelle den Stempel „Aufmerksamkeitsdefizit“ erhalten, treten die großen Probleme bei jungen Frauen oft erst später auf – nämlich dann, wenn sie Schwierigkeiten dabei haben, das zu tun, was als Frauen von ihnen erwartet wird: sei es, den Haushalt zu schmeißen oder wichtige Deadlines und Termine einzuhalten. Betroffene suchen zuallererst den Fehler bei sich, die Anderen scheinen es ja auch irgendwie zu schaffen. Das Resultat: weitere Probleme, Tendenzen zu Essstörungen, Angststörungen oder Depressionen. Auch das hat seinen Ursprung meistens in jungen Jahren, so bekommen Menschen mit ADHS allein bis zu ihrem zwölften Geburtstag statistisch gesehen 20.000 mal (kein Witz) so viel kritische Anmerkungen, wie neurotypische Menschen und entwickeln somit oft bereits im Kindesalter eine extreme Angst vor Ablehnung und Kritik.
Der Grund warum so viele junge Frauen sich lieber jahrelang anhören, sie wären faul, vergesslich oder unaufmerksam, anstatt zum Arzt zu gehen, ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. In einem patriarchalen System wird Forschung auch in der Medizin immer in erster Linie an männlichen Personen durchgeführt. Daraus folgt, dass auch die bekannten Symptome und Behandlungsmöglichkeiten zahlreicher Krankheitsbilder in erster Linie auf männlich gelesene Personen ausgelegt sind. Forschungen, die die Hälfte der Bevölkerung ignorieren, waren jahrzehntelang die Norm.
Dabei ist nicht mehr alles schlecht. Das Thema der „vergessenen Generation“ von weiblichen Personen mit ADHS gewinnt an immer mehr Beachtung. Auf social media tauschen sich Betroffene* aus und stellen fest, dass sie in ihren Verhaltensmustern nicht allein sind. Immer mehr junge Frauen sammeln sich in Blogs, Foren oder Discord Channels und ermutigen einander, den Schritt zur offiziellen Diagnose zu wagen. Neurodiversität ist nicht mehr das Tabuthema, das es einmal war und Tagträumerei ist eben nicht immer nur Tagträumerei.
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